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Die Sache mit den geistigen "Einschränkungen"


Empfohlener Beitrag

Geschrieben

Durch einen anderen Thread inspiriert, bei dem jemand mit einer (auch im Profil angegebene) geistigen Behinderung nicht nicht ernst genommen wurde - und weil mir in zahlreichen privaten Nachrichten immer mal wieder allerlei Fragen gestellt werden, habe ich einen eigenen kleinen Beitrag zu "mentalen Besonderheiten". 🙃

Ich bin Autist und das ist gut so. 😀 

Vorab sei bemerkt: Ich kann nur für mich reden, denn alle, die sich im Spektrum bewegen sind anders.

Ich bewege mich irgendwo im Spektrum zwischen hochfunktional und atypisch. Ich kenne keine "Meltdowns", worüber ich auch ziemlich froh bin, kriege mein Leben insgesamt total gut geregelt und habe auch überhaupt keine Einschränkungen die die Beschreibung "schwere seelische Störung" rechtfertigen würden. Und mit einem gemessenen IQ von 132 kann ich von mir auch behaupten, dass ich jetzt nicht unbedingt der Dümmste bin. Im Gegensatz zu vielen anderen verstehe ich auch (die meisten) Redewendungen sowie Ironie und Sarkasmus. Liegt einfach daran, dass ich ein extrem gutes Sprachgefühl habe (naja - hauptsächlich weil Sprache sich an Regeln hält und die lassen sich logisch nachvollziehen), wenn es um's Lesen geht oder wenn jemand einen Witz macht. Verglichen mit anderen, die ich kennenlernen durfte, ist das eine recht harmlose Sache und wenn ich es nicht aktiv anspreche, dann würde es den meisten gar nicht auffallen.

Was mir allerdings unglaublich schwer fällt sind soziale Interaktionen. Und was ist Flirten, Kennelernen und Sex anderes als eine Art "Königsdisziplin" der sozialen Interaktion? 😏 

Soziale Interaktionen sind für mich eher so ein "Regelwerk". Dinge, die man macht, Dinge die man besser lässt, Dinge die man sagt und solche die man besser nicht sagt. Regeln sind tolle Sachen, sofern sie nicht widersprüchlich sind, denn mit Widersprüchen kann ich nicht umgehen. Die verwirren mich vollends.

Ein kleines Beispiel:

Ich gehe davon aus, dass man mir "beim Kennenlernen" erzählt, was wichtig ist. Darum stelle ich fast nie irgendeine weitergehende Frage. Mir wurde gesagt, dass das als "Desinteresse" gewertet wird - allerdings weiß ich damit auch nicht viel anzufangen, denn ich kenne ja die Regeln dessen, was wofür man sich so interessieren kann gar nicht. Das ist vermutlich schwer zu verstehen: Ich kann jemanden unglaublich faszinierend finden - aber ich wüsste nicht, was ich diejenige fragen sollte, weil ich keine Vorstellung davon habe, ob ich vielleicht das falsche fragen könnte - denn etwas falsches sagen/fragen führt all zu oft zu Missverständnissen und Verstimmungen, also lasse ich das sicherheitshalber bleiben...
Beispiel aus dem "wahren Leben": Sie beklagt sich darüber, dass ich mich gar nicht für ihren Tag interessieren würde. Was sie so gemacht hätte, wie's ihr so ginge, worüber sie nachgedacht hätte, etc. Also mache ich mir eine Regel daraus und frage sie jeden Tag, was sie gemacht hat, wie's ihr so ging, worüber sie nachgedacht hätte, etc. War offensichtlich falsch, denn nach ein paar Wochen kam die Anmerkung, dass das irgendwie "auswendiggelernt" wirkt. Und mein Hinweis "Natürlich - was denn auch sonst. Soll ich aufhören, mich für deinen Tag zu interessieren?" löste eine mittelschwere Beziehungskatastrophe aus, die ich immer noch nicht so richtig verstehe. Schließlich habe ich mich ja auch nur an die gewünschte Regel gehalten. 🤷‍♂️

Empathie? Kann ich! Aber nur nach logischen Regeln.
Beispiel dafür, was ich nicht kann: Kollegin sagt, sie müsste echt mal fünf Kilo abnehmen. Ich meine, 10 bis 12 würden ihr besser stehen. Für den Rest des Tages herrschte schlechte Stimmung, obwohl ich doch eigentlich nur die Wahrheit gesagt hatte... (es wurde eine "sowas sagt man besser nicht"-Regel ergänzt).
Beispiel für etwas, das ich kann: Eine Freundin schüttet mir ihr Herz aus und ich kann das insgesamt herleiten, logisch verknüpfen, eine Struktur erkennen und sie sowohl trösten als auch sinnvolle Hilfe bieten. Sie hält mich für den emphatischsten Menschen, den sie je getroffen hat... 

Hab ihr eigentlich eine Vorstellung davon, wie unglaublich kompliziert flirten ist?

Vor eine Weile war ich mit Freunden unterwegs - kommt eine junge Frau zu uns rüber und fragt mich (aus meiner Sicht) belanglose/neutrale Sachen. Coole Klamotten, woher ich die hab, zum Beispiel. Naja - ich habe ihr dann ziemlich ausführlich und detailreich alles erklärt, sie fragte dann irgendwann, ob man sich da vielleicht mal zum Shoppen treffen könnte - ich könnte ihr vielleicht beim Anprobieren helfen. Meine Antwort, dass "das unangemessen erscheint und dass es dort aber Fachpersonal gibt, dass durchaus in der Lage ist eine qualifiziertere Beratung zu bieten" hat sie irritiert und meine Kumpels geradezu schockiert. Die meinten später nur "Alter - so eine heiße Braut und du lässt sie einfach abblitzen? Bist du völlig bescheuert?!?". Ich guckte die beiden nur eher fragend an und meinte "Warum? Sie wollte offensichtlich für jemand anderen einkaufen. Welchen anderen Grund sollte sie haben, zu einem Herrenausstatter zu gehen?" Nachdem die beiden dann aufgehört haben zu lachen, haben sie mir die (aus meiner Sicht vermuteten) Intentionen dann erklärt und ziemlich viel darüber fantasiert, was in Umkleidekabinen beim "Anprobieren" von Klamotten alles passieren kann... 😏🤷‍♂️

Also - implizit Dinge ausdrücken? Verstehe ich einfach nicht. Das macht flirten für mich zu einem Kommunikationsminenfeld - und da ich mir dann auch irgendwie dumm vorkomme, wenn ich ständig nachfrage, "wie das jetzt genau gemeint ist", lasse ich das lieber gleich bleiben. 😀 

Sex ist übrigens auch nicht einfach. Für mich ist das ein sich ständig erweiterndes Regelwerk aus Abläufen und jede Frau erweitert dieses Regelwerk ein Stückchen. Dieses "sich fallen lassen können" kenne ich überhaupt nicht. Dazu sind da viel zu viele Details, Eindrücke und Reize, die alle gleichzeitig da sind. Also "sich entspannen und darauf einlassen"? Ich kenne die Worte, aber ich kann sie. nicht mit Sinn füllen. Für mich ist es im Grunde unglaublich anstrengend, mich darauf zu konzentrieren, was da so passiert und in welcher Reihenfolge alles abläuft. Schließlich strukturiere und systematisiere ich alles und es gibt immer und überall wiederkehrende Muster (die fallen erstaunlicherweise nur den meisten Leuten nicht auf 🤔). Für mich ist Sex also sowas wie ein sich wiederholender Ablauf - ein Muster - das so vollgepackt mit Reizen ist, dass ich jede Menge Anstrengung darauf verwenden muss, das alles in einen korrekten Ablauf zu bringen.

Klingt total unerotisch und langweilig? Keine Ahnung. Beschwerden gab es bisher nicht. Schließlich betrachte ich das ja auch als "optimierungsfähigen Ablauf". Sobald ich das Feedback bekomme, dass etwas besser gemacht werden könnte, integriere ich das in den Ablauf. Das alles folgt somit festen Routinen, die nach und nach immer "besser" werden, je mehr Feedback ich dazu bekomme, was ich besser machen könnte.

Und was will ich nun mit all dem sagen? Nun - im Vergleich mit manch anderem, der sich hier so rumtreibt, bin ich unglaublich "normal". Ich ecke an, ich gehe den Leuten manchmal unglaublich auf die Nerven und ab und an verstehe ich nur Bahnhof, wenn man mir nicht direkt sagt, was man von mir will. Machmal mache ich mich auch über "die falschen" lustig, weil ich erst nicht merke, dass die eigentlich ein ernsthaftes Problem haben und es nicht so direkt ausdrücken können.

Soll heißen: Wir alle (ich eingeschlossen - und man sollte mich durchaus darauf hinweisen, wenn ich gerade nicht merke, dass ich jemandem auf den Schlips trete) sollten einfach mal ein wenig netter und achtsamer miteinander umgehen. 😀 

Geschrieben
Gerade eben, schrieb erausnm:

Hallo Denke du solltest Bücher schreiben

Ich arbeite dran. Hab' ich aber nicht so das Durchhaltevermögen für. 😂 

Geschrieben (bearbeitet)

denke weis wo Du drauf anspielst und mit etwas empathie kommt man selber drauf..aber man wird ja dann auch noch fertig gemacht wenn man sich hinter solche Personen stellt...aber naja vieleicht regt Dein Beitrag ja wirklich zum denken an...

bearbeitet von Gelöschter Benutzer
Geschrieben
Chapeau. Bester Beitrag seit langem
Geschrieben
Hört sich kompliziert an, aber Du scheinst das ganz gut zu meistern
Geschrieben
Sehr interessant und treffend formuliert.
Geschrieben
Extrem auf den Punkt gebracht. Hut ab und alles Gute!!
Geschrieben
Klingt sehr interessant was du schreibst. Ich kann dir sagen, dass die meisten Männer nicht verstehen was Frauen meinen, wenn man es nicht direkt sagt. Flirten können nur wenige Männer.
Geschrieben
Gerade eben, schrieb GentlemanJo:

Hört sich kompliziert an, aber Du scheinst das ganz gut zu meistern

Es ist vor allem ziemlich anstrengend. Aber solange es "eindeutige Kommunikation" gibt, ist für mich alles in bester Ordnung.

Aber wann ist flirten schon mal "eindeutig"? ;)

Geschrieben
Ein toller Beitrag, der zum Nachdenken anregt. Vor allem, wenn man keinerlei Erfahrungen damit gemacht hat..👍
Geschrieben (bearbeitet)

Entschuldigung, jeder hat irgentwo eine Meise !! Ist ja gut, Mann darf doch seine Meinung, noch sagen  ! Oder nicht  ? ****

bearbeitet von MOD-Sunshine
Unterstellung entfernt
Geschrieben
Für mich war das einfach mal interessant zu lesen...wieder mal bissel was dazugelernt...Aber, der letzte Satz trifft den Kern des Lebens!
Geschrieben
Ist schon interessant - was für uns völlig normal ist und wir schon gar nicht mehr drüber nachdenken .... Viel Spaß trotzdem irgendwie für dich!
Geschrieben

Sorry das ich so oft bei dem Text lachen musste. 

Aber, bis auf ein paar Ausnahmen bei dir, haben diese Kommunikationsprobleme alle Männer und Frauen untereinander. Du hast wenigstens ne gute Ausgangsposition, das man dir nicht sofort Böse ist. Andere Männer die nicht in deiner Situation sind, sind sofort am Arsch, weil sie die Frau nicht verstehen.

schüchtern_0815
Geschrieben
Gratuliere, bleib der der du bist und lass dich nicht verbiegen. Viel Spaß noch hier und viel Erfolg in deiner Zukunft
Geschrieben
vor 1 Minute, schrieb Maria2466:

Ich kann dir sagen, dass die meisten Männer nicht verstehen was Frauen meinen, wenn man es nicht direkt sagt.

Naja... andere Beispielsituation:

Der typische Diskobesuch. Ich werde wegen irgendwas angesprochen, sie lässt (wie man mir späte sagte "den Klassiker") fallen: "Ganz schön warm hier, wollen wir mal kurz raus?"

Ich gucke auf die Uhr, wechsle in den Thermometer-Modus und meinte "21,3 °C - ganz angenehm. Ich bleib hier."

Sie geht zum nächsten Typen und mit dem raus...

(Es folgte ein erneutes, völlig unverständliches "warum lässt du so'ne heiße Braut einfach abblitzen?!?") :D

Geschrieben
Willkommen im Club. Ich bin sehr spät als Asperger-Autistin diagnostiziert worden. Die ,,Probleme" die du beschreibst, kenne ich so ebenfalls. Durch die Blume verstehe ich nicht. Man muss mir klipp und klar sagen was man von mir möchte und erwartet. Dieses Soziale liegt mir ebenfalls nicht. Es ist auch sehr anstrengend den Leuten das immer wieder zu erklären.
Geschrieben
ach ja, bei vielen Männern läuft der Sex nach Schema F ab. Auch kein Problem. Du reagierst jedenfalls auf das was Frau kritisiert :)
Geschrieben
Danke für den guten Beitrag
Geschrieben
vor 15 Minuten, schrieb erausnm:

Hallo Denke du solltest Bücher schreiben

Daran musste ich auch sofort denken.

Ein Buch über dein Leben mit dieser Krankheit, könnte anderen helfen damit besser umzugehen.

 

Wünsche dir vom Herzen alles Gute

Geschrieben
Ich glaube, ich habe hier (fast) noch nie einen Text so aufmerksam gelesen, wie deinen. Danke für die Lektüre zum Abend. Klasse Zusammenfassung.
Geschrieben
Willkommen im Club! Bin Aspie. Kenne so einige der Situationen.
Geschrieben
vor 1 Minute, schrieb KlaraKorn:

Willkommen im Club. Ich bin sehr spät als Asperger-Autistin diagnostiziert worden. Die ,,Probleme" die du beschreibst, kenne ich so ebenfalls. Durch die Blume verstehe ich nicht. Man muss mir klipp und klar sagen was man von mir möchte und erwartet. Dieses Soziale liegt mir ebenfalls nicht. Es ist auch sehr anstrengend den Leuten das immer wieder zu erklären.

Ich sag's den Leuten meist recht früh, damit es nicht irgendwann zu Missverständnissen kommt... :)

vor 2 Minuten, schrieb Bibulette:

Ein Buch über dein Leben mit dieser Krankheit,

Das Ding ist: Ich fühle mich gar nicht krank. Manchmal fühle ich mich ziemlich angestrengt - aber ich vermute, jeder fühlt sich ziemlich oft ziemlich angestrengt.:)

Ich sage lieber: Ich hab geheime Superkräfte. Lass mich was systematisieren oder analysieren und du findest kaum jemanden, der das besser kann. ;)

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