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Die, die hungrig sind


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Geschrieben

Aus einem roten Himmel fiel ein warmer und leichter Regen auf die Straßen des Molochs, in dem Raoul sich langsam, aber dennoch zielgerichtet vorwärts bewegte. Er öffnete den Mund. Einige Tropfen fielen hinein. Er trank sie und sie schmeckten salzig. Gerne hätte Raoul sich jetzt auf eine Wiese gelegt, hätte den warmen Regen auf diese Art genossen, aber es gab kaum Wiesen in dieser Stadt im Jahr 2040. Vor allem gab es Steine. Und Menschen. 60 Millionen etwa.

Raoul war mittlerweile Ende 40. Er arbeitete Dreiviertel des Jahres über das Internet als Software-Entwickler ohne festen Arbeitsplatz. Damit verdiente er genug Geld, um fast an jedem Ort zu arbeiten, der ihm gefiel und ihm einen Anschluss für den Laptop bot. Die große Stadt reizte ihn nicht aus ästhetischen Gründen: Die meisten Viertel waren schmutzig, laut und überfüllt. Aber sie ließ einem große Freiheiten. Es gab nicht mehr viele solcher Orte im Jahr 2040.

 “Die, die hungrig sind, finden sich!” Nadjima hatte das vor ewiger Zeit gesagt. Damals saß sie in ihrer Wohnung nach fantasiereichem Spiel auf ihm, als Raouls entjungferter Penis merklich an Stabilität verloren hatte. Raoul sah sie jetzt, als stünde sie vor ihm: Nadjima, fünfzehn Jahre älter als er, eine stolze Frau, eine selbstbewusste. Sie hatte stets dieselbe Freiheit eingefordert, die Männer seit vielen Jahrhunderten für sich beanspruchen. Sie hatte viele Männer und Frauen geleckt, geküsst und geschlagen, hatte sich streicheln, lecken, küssen und schlagen lassen, war in sie eingedrungen, hatte sie eindringen lassen. Damals infizierte sie Raoul mit jener fiebrigen Lust, die niemals ganz zu stillen ist. Nadjima starb vor drei Jahren. Lungenkrebs. Zu viele Zigaretten. Zuviel Fieber. Ist das der Preis? So muss es nicht sein.

Nach mehreren Monaten ohne irgendeine sexuelle Aktivität war Raoul hungrig. So sehr, dass seine Gedanken immer öfter abschweiften zu erotischer Fantasie, die nur eine ebenso Hungrige befriedigen kann, wenn beide im tabulosen Spiel die Zeit und selbst Zeichen körperlicher Schwäche ignorieren, sie im Wahn wegfegen, in dem sie sich lustvoll selbst zerstören.

Raoul durchquerte eine bevölkerte Einkaufszone. Er vermied jede Penetranz und doch registrierte sein Blick alle Reize, steife Nippel unter dünnem Stoff, runde, weibliche, in enge Hosen verpackte Pobacken, an Lippen leckende Zungen, nackte weibliche Füße, gewagte Ausschnitte, die den Brustansatz freigaben und neugierige Blicke groß gewordener Mädchen und erfahrener Amazonen. All diese Reize legitimieren nichts: kein Starren oder Anfassen ohne Erlaubnis. Raoul starrte nicht, fasste nicht an. Aber die Reize waren da. Und jemand wie Raoul war sehr empfänglich.

Die “Neue Enthaltsamkeit” fesselte das Land und erstickte die Fantasie in religiösem Wahn, dem Schwule, Lesben, SMler und Swinger zum Opfer fielen. “Unzüchtig seien sie”, hieß es. Die Menschen der hässlichen Stadt wehrten sich, aber der Feind stand vor den Toren. “Verdammt sei die Sexualität!” schrie er und er schrie laut. Verdammt seien die Hungrigen.

Der Lärm quälte Raoul. Das Geschrei Streitender, das Bellen eines Dackels, das Hupen von Autos auf nahen Straßen, Musik aus halb geöffnetem Fenster ... Er hatte sie vor einigen Tagen nach Austausch diverser Chat-Nachrichten in einem Café kennengelernt. Sie nannte sich Lea, aber Raoul vermutete, dass das nicht ihr richtiger Name war. Sie gefiel ihm, trug Jeans und T-Shirt, beides eng genug, um Konturen ihres Körpers zu zeigen, Reize erahnen zu lassen. Aber es war nicht ihr Körper alleine, der Raoul gefiel. Es war auch ihr Interesse an derart vielen verschiedenen Dingen, ihre Neugier und ihre selbstbewusste Art, ihre überschwängliche Lust am Leben, die bisweilen durchsetzt war mit etwas Melancholie, vielleicht gar Trauer.

„Ich melde mich“, hatte Lea zum Abschied gesagt. Und sie hatte Wort gehalten. Gestern. „City Hotel. Parkstraße. 23 Uhr“ lautete ihre erste Nachricht. Die zweite Nachricht folgte bald: „Zimmernummer folgt morgen. Im Zimmer wird es dunkel sein.“ Ein Spiel. Ein reizvolles.

Nun stand sie neben dem Eingang des Hotels, nicht weit entfernt, und beobachtete Raoul. Ihre schwarzen Haare lugten unter der Kapuze eines olivgrünen Armeeparkas hervor, der fast all ihre weiblichen Reize verdeckte. Kaum, dass sie auffällig wirkte. Aber Raoul sah den Glanz in ihren Augen, ein hektisches Rot auf ihren Wangen. Sie begrüßte ihn, lächelte ihm zu. „Schön, dass du da bist“, sagte sie. „Ich gehe aufs Zimmer. Warte zehn Minuten. Dann komm. Ich sende dir die Zimmernummer via Chat!“

Sie schenkte ihm noch einen verführerischen Blick, drehte sich herum, bot Raoul den Anblick auf prall gefüllte Jeans und verschwand im Eingang. Raoul wartete. Quälend langsam verging die Zeit und jede Minute steigerte seine Sehnsucht, sie berühren zu können. Schließlich waren die zehn Minuten vorbei. Keine Nachricht. Keine Zimmernummer. Elf Minuten. Raoul wurde nervös. War das ihr Spiel: Aufgegeilte Männer vor Hotels warten lassen? Vielleicht amüsiert sie sich köstlich, wenn sie mit unbefriedigter Lust geschlagene Männer beobachtet, die enttäuscht feststellen, dass das erwartete und ersehnte Spiel ausbleiben würde? Das würde für einen perfiden Sadismus sprechen. Zwölf Minuten. Nichts. Und dann, in der dreizehnten Minute, kam die erlösende Nachricht. Endlich. „Sag dem Portier, dass du zu Zimmer 112 willst. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Öffne sie, gehe hinein und schließe sie direkt danach. Ich freue mich. Bis gleich.“

Raoul lächelte und die Vorfreude pochte zweimal sanft von innen gegen seinen Slip. Als er das Hotel betrat, traf er auf den Portier, einen hageren, älteren Mann, der ihn ohne großes Interesse ansah. „Zimmer 112?“, fragte Raoul. „Erster Stock“, antwortete der Portier, zwinkerte und wendete den Blick ab. Die Sache war für ihn erledigt. Raoul stieg in den ersten Stock, suchte und fand das Zimmer und öffnete die Tür. Es gab einen kleinen Flur, der ihm den Blick ins eigentliche Zimmer verwehrte. Raoul schlüpfte hinein und schloss die Tür. Die Luft war warm, fast ein wenig stickig. Völlige Dunkelheit umgab ihn. Seine eigene Hand vor Augen sah er nicht. Aber... wollte er das? Er wollte Tropfen lecken von ihrem Schoß, sah sein Gesicht bereits zwischen ihren Schenkeln, trinkend wie ein Verdurstender.

Mit welcher Macht verführte Lea ihn derart, lockte ihn intensiver als jeder Mensch zuvor seit Nadjimas Tod? Was ließ sein Herz rasen wie das eines verliebten Jungen von vielleicht fünfzehn Jahren? War es nicht... ihr Blick, der das Innerste offenbarte, den Hunger, den sie verspürte und der allein seinen würde stillen können? Raoul gierte nach ihrem Körper, nach ihren Brüsten und ihren Schenkeln. Er tastete die Wand entlang, langsam, um nicht zu stolpern.

Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, sodass er – das eigentliche Zimmer betretend – ein wenig sehen konnte: einen kleinen Tisch, zwei Stühle und das Bett. Es war leer. Aber die Luft duftete plötzlich nach einem exotischen Blütenmix, der einen süchtig machen konnte. Und dann schmiegte sich ihr Körper von hinten an ihn. „Hey“, setzte er an, aber sie setzte ihm den Finger auf die Lippen und brachte ihn zum Schweigen. „Pssst", entgegnete sie mit ihrem Mund an seinem Ohr. Er hörte ihr Atmen, ein langsames Atmen, das seinen Gehörgang völlig ausfüllte.

Sie drehte sich so, dass sie vor ihm stand, küsste ihn intensiv auf den Mund und drückte mit ihren Händen anschließend auf seine Schultern. Raoul verstand ihr Zeichen, glitt an ihrem Körper entlang, küsste die feuchte Haut in ihrem Dekollete, berührte mit den Lippen den Stoff über ihren Brüsten, ging auf die Knie, lag schließlich mit dem Rücken auf dem Boden. Flink drückte sie ihren Schoß auf sein Gesicht. Raoul grub sein Gesicht hinein. Er küsste. Leckte. Liebte. Tauchte ein. Sie berührte seine Lippen, die Eichel, zerkratzte seine Brust, leckte Blut und trank frisch Gemolkenes.

Er saugte ihre Finger, ihre Zehen und Brüste. Sie wälzten sich, rangen miteinander, brüllten wie kopulierende Löwen. Sie schlemmten, schwelgten, prassten und drohten, einander im Rausch zu zerreißen. Raoul leckte Tropfen von krausem Achselhaar. Sie umschlang ihn, als wolle sie ihn zerstören. Raoul genoss ihren Duft, ihr Atmen und trank ihren Speichel. Und je mehr er von all den Früchten aß, die er bekam, desto größer geriet sein Hunger. Sein Körper verfeuerte alle Reserven, bereit, sich selbst für dieses Fest zu opfern. Alles schien ewig zu dauern und war doch irgendwann vorbei. Nur Hungrige feiern so.

Von irgendwo her tönte eine Stimme, predigte gegen das fleischliche Verlangen und wandelte sich zu einem Stöhnen, einem orgastischen Schreien.

„Geh jetzt“, hatte sie zum Abschied gesagt. „Ich melde mich“. Er hatte versucht, etwas zu erwidern, aber sie hatte erneut Stille gefordert. Und so ging er, ohne weiteren Abschied.

Später in der Nacht. Raoul hörte das Flattern eines Vogels. Kaltes Neon regierte die Straßen. Raoul saß auf einer Bank in einem verwilderten kleinen Park. Hämmernde Schmerzen in seinem Kopf. Schmerzen auch im leeren Beutel zwischen seinen Beinen. Um ihn herum standen verwilderte Sträucher, Löwenzahn, die Ruine eines Hauses. Raoul rappelte sich auf. Seine Beine knickten mehrfach ein, ehe er einigermaßen sicher stand. Ihm fröstelte. “1:43” zeigte seine Uhr. Hatte er geträumt? Eine Nachricht. „Es war schön. Wir sehen uns wieder? Lea“.

„Ja“, antwortete Raoul. „Ja, ja und ja. Sehr gern würde ich dich wiedersehen!“

Etwas später klingelte sein Smartphone. Raoul zog es aus der Innentasche seines Jacketts.

„Hallo?”

Er erwartete, Leas Stimme zu hören. Aber sie war es nicht.

„Pass gut auf dich auf, Raoul!”, flüsterte eine weibliche Stimme, „sie kommen”. Er schwitzte. „“Nadjima?”, fragte er. Nichts mehr. Keine Verbindung. War es Einbildung? War es mehr als das?

In jener Nacht betrat ein Priester die Stadt. Er hasste Sex, weil er ihn zu sehr liebte, um vor dem eigenen sehr strengen Urteil zu bestehen. Er hasste die Hungrigen, die ihren Hunger bisweilen stillen. Seinen eigenen versteckte er unter der Soutane. Er brachte eine Moral mit, die wie ein Korsett aus Worten war. Schwere Zeiten brachen an. Und niemand wusste genau, wer sie überstehen wird.

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