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verfallen (1/10)


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Geschrieben

Gedankenverloren saß sie in ihrem Opel Corsa, dessen einst leuchtend roter Lack im Laufe der Jahre längst verblichen war, und fuhr über die Meckenheimer Straße. Eine langgezogene Eindellung auf der Beifahrerseite und zahlreiche Kratzer im Frontbereich verliehen dem Kleinwagen mittlerweile einen besonders individuellen Charakter. Manchmal bedauerte Monika, sich nicht besser um den Kleinwagen gekümmert zu haben. Immerhin hat er sie nie im Stich gelassen. Mittlerweile war wohl nicht mehr viel zu retten, aber beim nächsten Auto, das nahm sie sich ganz fest vor, würde sie mehr Liebe investieren.

Warum nur fuhr sie ausgerechnet heute hier lang? Sie hätte es besser wissen müssen. Verdammt, sie wusste es sogar besser! Heute sollte DER Tag für sie sein. Heute wollte sie in ein neues Leben starten und nun würde sie sich verspäten, weil die Straße mal wieder dicht war. Sie glaubte nicht so recht an Wegweiser des Schicksals. Früher hatte sie immer darauf bestanden, bewusst eigene Entscheidungen zu treffen und eben gerade nichts dem „Zufall“ oder dem „Schicksal“ zu überlassen. Für Monika war der Glaube an derartigen Schwachsinn nur ein Zeichen von geistiger Unentschlossenheit.

Aber dieses „Früher“ lag nun schon lange zurück – mittlerweile waren es beinahe 11 Jahre. Seitdem musste sie sich eingestehen, dass es mit ihr stetig bergab ging: Den Draht zu ihren beiden Kindern, insbesondere zu Markus, hat Monika damals schon nach kurzer Zeit verloren. Zu Diana bestand zumindest bis zuletzt noch unregelmäßiger Kontakt, wenn auch hier die Bindung deutlich gestört war. Den Job als Disponentin in der Spedition verlor sie 2005. „Vielleicht hat ja doch das Schicksal schon mein ganzes Leben auf diesen Moment hier hingewirkt. Darauf, dass ich zu dem geworden bin, was ich nun mal bin. Darauf, dass ich wohl doch ewig in meinem alten Leben gefa….“ Monikas Gedanken blockierten, als sie im Rückspiegel den weißen Sprinter auf das Stauende zurasen sah. Sie schloss die Augen. Danach spürte sie einen kräftigen Ruck und verlor das Bewusstsein.

Als sie wieder zu sich kam, war alles verschwommen. Ihre Augen mussten sich erst an das grelle Licht gewöhnen. „Guten Tag, Frau Neuhaus“, hörte sie eine einfühlsame Stimme. Im Augenwinkel erkannte sie einen Mann im weißen Kittel. Er trug ein Stethoskop um den Hals und unterzeichnete etwas nebenbei. „Mein Name ist Dr. Rainer Engel. Sie hatten einen Autounfall und befinden sich nun in der Kaiser-Karl-Klinik in Bonn. Wir werden gewiss noch Gelegenheit für ausgiebige Gespräche finden. Aber jetzt ruhen Sie sich erstmal aus! Sie brauchen für das, was Ihnen bevorsteht, viel Kraft.“ Damit verschwamm das Bild vor Monikas Augen wieder und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

***

Diana Herget hatte am 07. November extra Urlaub genommen, denn es gab noch so viel zu erledigen, damit für den Geburtstag ihrer kleinen Tochter Nele alles perfekt war. Fünf Jahre wurde die Süße nun schon alt und wenn sie aus dem Kindergarten nach Hause kommen würde, sollte die ganze Wohnung mit Luftballons und Girlanden dekoriert sein. Zum Kaffee waren sechs Freundinnen aus dem Kindergarten eingeladen. Diana hatte sich schon vor über zwei Monaten Gedanken darüber gemacht, wie sie die Rasselbande den ganzen Nachmittag bei Laune halten sollte. Mit dem Ergebnis ihrer Überlegungen war sie durchaus zufrieden.

Auch Markus, ihr älterer Bruder, hatte sich auf einen kurzen Besuch angekündigt. Einerseits freute sie sich auf ihn, aber bei dem Gedanken daran bekam Diana schon wieder etwas Bauchschmerzen. Denn die Gespräche zwischen beiden endeten fast regelmäßig im Streit. Aber ob er wollte oder nicht, Diana liebte ihre Mutter noch immer – egal, was in der Vergangenheit passierte. Auch sie hielt nur unregelmäßigen Kontakt zu ihrer Mutter und auch für Diana ist nicht jedes Zusammentreffen mit ihr von purer Freude gekrönt. Aber trotzdem blieb sie ihre Mutter – und das wollte sie auch nie vergessen. Diana hatte schon oft versucht, ihren Bruder mehr für die Situation zu sensibilisieren, in der sich Monika befand. Aber davon wollte er nie etwas hören. Stattdessen machte er immer wieder deutlich, dass sie – Monika – sowohl ihn, als auch Diana damals im Stich gelassen hatte und sie deshalb für ihn gestorben wäre.

Christoph holte Nele gerade vom Kindergarten ab. Sie müssten jeden Moment zu Hause sein. Mit Christoph war Diana nun schon drei Jahre zusammen, geheiratet hatten sie im September letzten Jahres. Für sie war Christoph seit der Geburt von Nele das Beste, was ihr passieren konnte. Er war ihr Fels in der Brandung. Ihre Gedanken verebbten, als sie mitbekam, dass Christoph die Wohnungstür aufschloss und er zusammen mit Nele in die Wohnung stürmte. Diana kniete sich auf den Boden des Wohnzimmers und breitete die Arme aus, um Nele freudestrahlend zu begrüßen. Ihr erstes Geschenk an ihren Sonnenschein war ein herzhaftes Lachen, welches von Nele prompt erwidert wurde. In diesem Moment wusste sie wieder einmal, wie sehr sie ihre Familie liebte. Wie weggeblasen waren die Gedanken an Markus, die sie noch vor wenigen Minuten plagten.

Bis Nele’s Freundinnen aus dem Kindergarten kamen, hatte sie schon viele Geschenke ausgepackt. Alle waren in ganz tollen, kribbelbunten Geschenkpapier einpackt. Sogar die tolle Puppe hatte sie bekommen, die sich schon seit über einem halben Jahr wünschte. Sie ließ sie eine knappe Stunde lang nicht mehr aus den Augen. Überhaupt war es für Nele bisher ein unvergesslicher Tag! Wegen der ganzen Geschenke und der Spiele mit ihren Freundinnen war das Geburtstagskind noch ganz aufgekratzt. Alle Kinder hatten viel gelacht und vom Umhertoben schwitzten sie so sehr, dass ihre Haare ganz nass waren. Bei Annika konnten die anderen sogar eine neue Frisur stylen, weil sie so kurze Haare hatte. Plötzlich sah sie aus wie ein kleiner Igel. Diana hatte ein paar Fotos von Annika gemacht und musste hoch und heilig versprechen, dass jedes der Mädchen die Abzüge zur Erinnerung erhalten würde.

Etwa 16:30 Uhr tauchte wie versprochen Markus auf, um seiner „Lieblings-Nichte“ die besten Glückwünsche zu entgegnen. Sie wusste schon mit ihren fünf Jahren, dass er das nur sagte, weil sie seine einzige Nichte war. Aber das war Nele egal, sie wusste, dass ihr Onkel sie wirklich gern hatte. Natürlich hatte auch Markus ein großes Paket dabei. Gerade noch rechtzeitig hat er es nach Hause geschickt bekommen. Obwohl Nele, bis Markus zu ihrer Feier kam, schon eine Menge Pakete auspackte, war sie auch bei dem ihres Onkels total gespannt. Bisher hatte er nie gefragt, was sie sich wünschte, sondern suchte immer selbst etwas aus – und traf damit genau ins Schwarze. Dieses Mal entschloss er sich für eine kuschelig-weiche Winterjacke. Nele probierte sie natürlich sofort an und bestaunte sich selbst wie ein kleines Model in dem großen Spiegel im Flur. Markus gegenüber drückte sie ihre Begeisterung für das tolle Geschenk mit einer herzlichen Umarmung aus. Schon in der kurzen Zeit, in der Nele die Jacke anhatte, schwitzte sie wie verrückt. Beim Ausziehen musste Markus ihr sogar helfen, weil die Jacke an ihren Armen kleben blieb. Und wieder haben ihre Gäste sich gekugelt vor Lachen. „Du siehst aus wie eine Verrückte im Irrenhaus!“, warf Emily ein, als beide Arme von Nele durch die Jacke am Rücken fixiert waren.

Markus spielte noch eine ganze Weile mit Nele und deren Freundinnen. Nicht alle kannten ihn schon, aber bereits nach kurzer Zeit war er der Unterhaltungs-Höhepunkt für die Mädels. Markus musste sich eingestehen, dass die Mädchen viel mehr Energie hatten als er, trotzdem verging die Zeit an diesem Nachmittag wie im Flug. Eigentlich wollte er gar nicht so lange bleiben. Als er den jungen Energiebündeln schließlich andeutete, dass er nun gehen müsste, wollten die ihn gar nicht loslassen. Nur mit Mühe konnte er sich ihren Fängen entziehen. Er ging zu Diana in die Küche, die dort für Ordnung sorgte und das Abendessen vorbereitete. Sie hat sich heute die Haare schön gemacht, stellte Markus für sich fest. Dabei wunderte er sich, wieso ihm das nicht gleich auffiel und vor allem warum er dieses Kompliment nicht an seine Schwester weitergab. Trotzdem, fand er, sah sie irgendwie unglücklich aus.

„Hey Schwesterherz, wieso bist du denn jetzt so traurig?“, wollte er von ihr wissen. „Warum glaubst du denn, dass ich traurig bin?“ „Ich kenne dich schon ein paar Jahre – du bist traurig! Also, warum? Komm schon, mir kannst du doch alles erzählen!“ „Naja“, begann sie zögernd, „es ist wegen Mama. Ich hatte gestern noch mit ihr telefoniert. Da hat sie versprochen, Nele heute Vormittag noch anzurufen, ehe sie losfahren würde. Sie hat es bis jetzt nicht getan. Wahrscheinlich hat sie gerade viel Stress…“ „Oder sie hat es mal wieder vermasselt!“ unterbrach sie Markus. „Lass uns doch nicht schon wieder streiten, Markus. Bisher war es ein wirklich toller Tag und wir sind es Nele schuldig, dass es auch so bleibt!“ „Ja, da gebe ich dir Recht. Aber wieso du Mama immer wieder den Rücken freihälst und sie ständig in Schutz nimmst, verstehe ich nicht – und das werde ich auch nie verstehen!“

Diana wollte gerade den nächsten Satz beginnen, als im Fernsehen gerade ein Nachrichtenbeitrag aus Bonn gezeigt wurde: „…Transporter ungebremst in das Stauende. Bei dem Unfall wurden zwei Personen verletzt. Gott sei Dank ist bei diesem tragischen Unglück nicht noch Schlimmeres passiert. Köln:…“ „Verdammt!“, warf Markus wütend darüber ein, dass schon der nächste Beitrag gezeigt wurde. „Hast du das gesehen?“ fragte er und zeigte mit zitternder Hand zum Fernseher. „Das Auto im Stauende sah aus, wie das von Mama!“ Er sah zu seiner Schwester rüber, die sich kreidebleich mit geöffnetem Mund an dem Tisch festhielt. In dem Moment wusste er, dass seine Befürchtung schreckliche Realität war.

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