Jump to content

Poppen heute, vor 20 Jahren, vor 2000 Jahren.


Empfohlener Beitrag

Geschrieben

Tja - da stellt sich die Frage, was war die Norm und was war die Ausnahme! Wenn du dir literarische Beispiele ansiehst (Effi Briest, Der Untertan, Anna Karenina, etc.) dann spiegelt das bis ins 20. Jahrhundert auffallend oft wieder: Die anständige Frau hatte keusch zu sein. War sie es hingegen nicht, hatte das tragische Konsequenzen - meist nur für die Frauen.

Glaubst du denn, dass bei deiner Untersuchung verklemmte und /oder extrem religiöse Menschen bereitwillig Auskunft gaben? Meine Großmütter hätten dir bei dem Ansinnen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Um offen über Sex reden zu können, muss man dem Thema offen gegenüber stehen. Eine Befragung 80-Jähriger Huren ergibt sicher ein anderes Bild, als eine Befragung 80-jähriger Nonnen. (Zufällig habe ich auch Hauptfach Geschichte studiert und weiß, dass gerade Befragungen keinesfalls repräsentativ sind!)

Außerdem ist und war eine Gesellschaft natürlich nicht homogen. Ich kenne selbst in meinem Alter mindestens 10 Menschen, von denen ich definitiv weiß, dass sie ihren ersten Sexualpartner geheiratet haben. Etliche davon hatten bis heute nur mit einem einzigen Menschen Sex. (Die gibt es sogar hier...)


Geschrieben

Entschuldige - aber Du liest nicht sorgfältig: Effie Briest, Anna Karenina, Der Unteran - das ist eben die offizielle Literatur die zu der ebensolchen offiziellen Geschichtsschreibung von Herschafts- und Kulturgeschichte gehört, die seit den 70ern aufgebrochen wurde.

Decameron, Marquis de Sade, Fanny Hill und zig andere Werke gehören jedoch ebenso zu dieser Literatur - auch wenn sie entsprechend der offiziellen Moral eben nicht im Bücherregal stehen durften.

Es waren Bäuerinnen und Bauern, Gastwirte, Handwerker, Hausfrauen, die wir damals interviewten (abgesehen davon, dass es nicht um Repräsentanz ging und geht) Und selbstverständlich waren die Geschichten, die sie erzählten, längst vergangen oder sind immer den anderen passiert und nie ihnen selbst. Aber spannend war, wie diese Erinnerungen sprudelten, wenn einmal der Bann gebrochen war. Als Primärlquelle waren die Leute übrigens von erster Güte, da es die mediale Präsenz des Themas noch gar nicht gegeben hat, die es ihnen erlaubt hätte, zu faken.
Übrigens: meine tatsächliche Familiengeschichte erfuhr ich auch erst, nachdem ich meinen Eltern einige der Interviews zum Lesen gab - und die fiel dann völlig anders aus als das, was ich bisher gehört hatte. Plötzlich verstand ich auch, weshalb mein Onkel - ein Wittwer - regelmäßig sonntag abends zu einer entfernten Verwandten ging, um mit ihr zu besprechen, wie er ihre Felder, die er mit bewirtschaftete, bearbeiten sollte.

Als Historikerin sollte Dir übrigens nicht entgangen sein, dass in Folge dieser neueren Forschungsschwerpunkte in der Sozialgeschichte des Alltags eine Menge an Literatur - sowohl wissenschaftlicher Art als auch in Romanform auf den Markt gekommen ist, die dieses Thema ausgiebig aufarbeitet und beleuchtet.


Geschrieben

Ist de Sade repräsentativ für seine Zeit? War es damals gängige Praxis junge Mädchen zu quälen? In Romanen vermischen sich Fiktion und Realität, daher lassen sich nur bedingt Rückschlüsse ziehen.

Die offizielle Sexualmoral unterliegt ebenfalls Strömungen. Meist folgten auf liberale Epochen sehr rigide. Logischerweise gab es aber immer Menschen, die sich jenseits der gängigen Moral stellten. Wer es sich erlauben konnte, tat dies ungeniert (Katharina, die Gr., August d. Starke), wer die Möglichkeiten nicht hatte, landete in der Gosse.

Global gesehen gibt es auch heute extrem unterschiedliche Moralvorstellungen. Während es hier die Norm ist, vorehelichen Sex zu haben, kann das gleiche Verhalten für ein saudiarabisches Mädchen tödliche Konsequenzen haben! Würde ich noch in meinem Heimatdorf leben, wo sofort drei Nachbarn schauen, wer wo zur Haustür hineingeht, könnte ich mir meinen derzeitigen Lebensstil keinesfalls erlauben.

Du wirst aber sicher nicht bestreiten, dass mit der Erfindung bzw. flächendeckenden Verbreitung von Verhütungsmitteln die sexuelle Entfaltung deutlich erleichtert wurde. Wenn Frau nicht mehr befürchten muss, bei jedem Akt schwanger werden zu können, kann sie wesentlich liberaler sein.


Geschrieben

wer die Möglichkeiten nicht hatte, landete in der Gosse.



Hier liegt unsere Differenz: Dein Bild sexuellen Verhaltens der breiten Bevölkerungsschichten ist geprägt von einem Klischee, das mühevoll über Jahrhunderte hinweg von einer christlichen Kultur gezimmert wurde, da die damit verbundene Moral absolut notwendig war, um den kirchlichen Einfluß auf die Gesellschaft zu sichern.
Nichts desto Trotz ist es ein Klischee - und hinter den Fassaden existierte eine Realität, die weitaus weniger moralisch war - in Niederbayern war beispielsweise das "Probeliegen" zweier Hochzeitsaspiranten im Rahmen von Heiratsverhandlungen verbreiteter Usus, Analverkehr bei gleichzeitiger klitoraler Stimulation war weit verbreitet als Ersatz für die rufschädigende Entjungferung - alles geduldet mit zugedrücktem Auge und mit Schweigen sanktioniert.

Da Du Verhütung ansprichst: Fromms nahtlose Kondome gab es bereits seit 1913. Weitaus wichtiger war wohl die Tatsache, dass die Moraldiskussion in Verbindung mit der Entwicklung der Anibaby-Pille die bis dahin geltenden Klischees aufbrach. Natürlich brachte dies ganz neue öffentliche Entfaltungsmöglichkeiten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Sexualität bereits in den Zeiten davor auch von Frauen genossen und nicht nur erduldet wurde.

BTW: nirgendwo wurde von mir behauptet, dass de Sade normativ für die Gesellschaft gewesen wäre - es war ein Beispiel, dass selbst in der Literatur die angeblich nur puritanisch existierende Sexualität in durchaus lustvoller Weise vorhanden war. Es ist übrigens etwas fragwürdig, wenn Du einerseits Effie Briest als Beweis für Deine Position anführst, bei de Sade dann aber die Aussagekraft anzweifelst.

Es ist übrigens eine ganz andere Ebene, dass Antibabypille und §218 wesentliche Marksteine in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Gleichberechtigung der Frauen waren. Und mein Eindruck ist, dass Du hier einiges vermischst.

Im Übrigen könntest Du Dir Deinen Lebensstil auch in einem 50-Seelen-Dorf hier und heute erlauben: es würde ein bestimmtes Gerede nach sich ziehen, aber keine gesellschaftliche Ächtung! Nicht einmal der sonntägliche Gang in die Kirche würde Dir verwehrt werden.


Geschrieben


Die offizielle Sexualmoral unterliegt ebenfalls Strömungen.



Seit ich das las, frage ich mich, was wohl die offizielle Sexualmoral in dieser Zeit in unserem Land ist.


×
×
  • Neu erstellen...